Archiv für den Monat: Juli 2009

Forderungen zur Umsetzung von Inklusion im Berliner Bildungsbereich

Der AK GEM hält es für dringend erforderlich, dass im Land Berlin die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) in allen Lebensbereichen zügig umgesetzt wird. Für den Bildungssektor halten wir folgende zehn Punkte für zentral und fordern den Senat von Berlin auf, sie in seine Planung aufzunehmen.

  • Inklusionskonzept . Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist seit März 2009 innerstaatliches und damit auch Berliner Recht. Der AK GEM fordert den rot-roten Senat auf, zügig ein Inklusionskonzept vorzulegen und in seine Planung die Perspektive für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen auf die inklusive, gemeinsame Unterrichtung „auf allen Ebenen des Bildungssystems“ aufzunehmen. Inklusion muss gemäß der UN-Konvention im Berliner Schulgesetz verankert werden. Inklusionsfeindliche Paragraphen (z.B. § 37.3) [1] müssen beseitigt werden. Sämtliche Verordnungen und die Rahmenlehrpläne müssen auf Inklusivität überprüft und ggf. entsprechend verändert werden. Inklusion ist Aufgabe des vorschulischen Bereichs und Aufgabe aller Schulformen und Schulen, also aller Grundschulen, Integrierten Sekundarschulen, Gemeinschaftsschulen, Gymnasien und Beruflichen Schulen. Es ist für uns selbstverständlich, dass die inklusive Förderung eine sachangemessene Ausstattung erhält.
  • Partizipation aller Beteiligten. Inklusive Politik bedeutet zugleich, dass alle Akteure in diesen Prozess einbezogen und wichtige Fragen öffentlich erörtert werden. Das ist derzeit nicht erkennbar: Die Planung der sonderpädagogischen Förderung für die nächsten Jahre wird derzeit ausschließlich verwaltungsintern erarbeitet. So lässt sich kein öffentlicher Lernprozess gestalten, zu dem auch Bewusstseinsbildung gehört. Der AK GEM fordert, dass sich der Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung nicht nur selbst an solchen Diskussionen beteiligt, sondern seine Verwaltung zu Einzelfragen öffentliche Gespräche organisiert, möglichst in Abstimmung mit dem Behindertenbeauftragten. Auch in den Bezirken sind entsprechende öffentliche Diskussionen über die sozialräumlich nötige Umsetzung inklusiver Schulangebote erforderlich. Darüber hinaus sollten Eltern, Lehrer und Schüler ausführlich mit einer Broschüre über die neuen Angebote und Regelungen informiert werden, die auch in häufig vertretenen Migrantensprachen übersetzt wird.
  • Sozialräumliche Inklusion . Inklusion als ein Konzept für eine Schule für alle wird – neben integrativen pädagogischen Maßnahmen – vor allem auch durch strukturelle Maßnahme im Bildungsbereich realisiert, die schrittweise und mit einer klaren Zeitperspektive dafür sorgen, dass aussondernde Institutionen zugunsten inklusiver abgeschafft werden. Integrationsklassen in einzelnen Schulen genügen dabei dem Inklusionsanspruch nicht mehr ausreichend. Vielmehr ist ein für das ganze Land Berlin umzusetzendes, sozialräumliches Gesamtkonzept nötig. Dazu gehört, dass auch der Schulpsychologische Dienst, die Schulärzte, die Jugendhilfe, der Regionale Sozialpädagogische Dienst und weitere regionale Beratungs- und Unterstützungsinstitutionen in das Gesamtkonzept aufgenommen werden.
  • Klare Zielmarken . Das Vorhaben zur Realisierung von schulischer Inklusion muss eine klare Planung von indikatorengestützten Zielen (transparente quantitative und qualitative Benchmarks) enthalten. Diese enthalten auch klare Aussagen, bis zu welchem Zeitpunkt Sonderschulen auslaufen.
  • Resourcenzuweisung . Die Ressourcen zur Realisierung inklusiver schulischer Fördermaßnahmen sollen für die Förderbereiche Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache nicht mehr nach einem individuellen Feststellungsverfahren den Schulen zugeteilt werden, sondern bezogen auf die gesamte Schülerzahl. Dabei soll ein Sozialfaktor berücksichtigt werden, der sich aus dem Sozialatlas oder dem Umfang der Lernmittelbefreiung ergibt. Dieses Prinzip kann auf ganze Bezirke und innerhalb der Bezirke auf die einzelnen Schulen angewandt werden. Es sollte davon ausgegangen werden, dass die Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten Lernen, emotional-soziale Entwicklung und Sprache rund 5% aller Schülerinnen und Schüler (Kl. 1-10) ausmachen. Die für die genannten drei Förderschwerpunkte nötigen Stellen für Sonderpädagogen sollen in den allgemein bildenden Schulen angesiedelt werden.

Für die übrigen Förderschwerpunkte sollte von 2% ausgegangen und an der individuellen Feststellung des Förderbedarfs festgehalten werden. Auch für diese ist davon auszugehen, dass die Verteilung in den Bezirken unterschiedlich sein wird. Für die Gewichtung der Stellenzuweisung an die Bezirke könnten die Daten des Gesundheitsatlas herangezogen werden. Außerdem muss das unterstützende Fachpersonal für die ergänzende Betreuung innerhalb des Unterrichts und für Angebote im Ganztag gesichert werden.

  • Beratungs- und Koordinierungszentren pro Bezirk. Für die Förderschwerpunkte Sehen, Hören, körperliche und motorische Entwicklung und geistige Entwicklung sollte pro Bezirk ein gemeinsames Beratungs- und Koordinierungszentrum eingerichtet werden, in dem die bezirklichen Stellen für die allgemein bildenden Schulen dieser Förderschwerpunkte geführt werden, ggf. spezifische Lernmaterialien ausgeliehen und gewartet werden und die Beratung der Schulen, Eltern und Kinder/Jugendlichen angeboten wird. Auch diese neuen Einrichtungen legen regelmäßige Rechenschaftsberichte vor. Diese Zentren sollen keinen Unterricht anbieten, da sonst Beratung und Koordinierung von inklusionsbehindernden Eigeninteressen bestimmt werden könnten.
  • Rechenschaftslegung . Die Vergabe von Ressourcen ist an eine Rechenschaftslegung zu koppeln, die die schulinternen Maßnahmen und die Ergebnisse der Förderung der Schülerinnen und Schüler ausweist. Dabei sollen Misserfolge und Erfolge schulintern dokumentiert werden. Schulen, die bezogen auf individuelle Erwartungswerte überdurchschnittliche Erfolge zeigen, sollten besondere Erfolgsprämien erhalten (in Form konsumtiver Mittel). Um diese Lernentwicklungen und Fördererfolge dokumentieren zu können, bedarf es sowohl valider Qualitätskriterien als auch einer kontinuierlichen Dokumentation (und einer Neufassung der Prozessdiagnostik im Sinne ganzheitlicher und individueller Entwicklungen).
  • Allgemeine Schulentwicklungsplanung . In der Schulentwicklungsplanung des Landes und der Bezirke und im Schulprogramm der allgemeinen Schulen ist Inklusion explizit zu berücksichtigen. Der AK GEM empfiehlt, in die Steuergruppen der Schulen Sonderpädagogen einzubeziehen.
  • Zentren für unterstützende Pädagogik . Der AK GEM schlägt vor, in allen allgemeinen Schulen Zentren für unterstützende Pädagogik (ZUP) einzurichten, in denen die Sonderpädagogen, die Erzieher oder Sozialarbeiter/-pädagogen des Ganztagsbereichs und ggf. weiteres Personal (etwa für die Begabtenförderung und die Schulstation bzw. dem Schülerclub) zugeordnet sind.
  • Kompetenzentwicklung des Personals . Der Paradigmenwechsel zur Inklusion verlangt von allen an Inklusion beteiligten Institutionen und Personengruppen eine Weiterentwicklung ihrer Kompetenzen. Das gilt für Erzieherinnen im Kindergarten und im Ganztag, für Schulärzte, Schulpsychologen, Schulleitungen, Sozialarbeiter/-pädagogen im Ganztag, Sonderpädagogen und Lehrkräften der allgemein bildenden und beruflichen Schulen. Alle sollten sich gemeinsam fortbilden. Daher muss der inklusive Umwandlungsprozess in den nächsten Jahren begleitet werden von verschiedenen Qualifizierungsmaßnahmen. Der Senat ist gefordert, ein schlüssiges Gesamtkonzept für alle drei Phasen der Lehrerbildung vorzulegen. Der AK GEM hält folgende Maßnahmen für dringend erforderlich:
  • Die Lehrerbildung in allen drei Phasen muss auf Inklusion ausgerichtet werden. In die Ausbildung aller Lehrämter an allen Berliner Ausbildungsuniversitäten muss ein Pflichtmodul „Integrationspädagogik“ bzw. „Inklusion und Heterogenität“ aufgenommen werden. Derzeit ist dies nur noch im lehramtsbezogenem Bachelor der TU gegeben (für Berufsschullehrer und das Fach Arbeitslehre). Entsprechendes gilt für die Erzieher- und Sozialarbeiter/-pädagogenausbildung.
  • In der Ausbildung der Sonderpädagogen sollte mindestens eines der drei Praktika und der Vorbereitungsdienst mindestens zur Hälfte in einer integrativen Klasse durchgeführt werden.
  • Ein Zweitfach Sonderpädagogik mit den Schwerpunkten Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache soll in die bisherigen allgemeinen Lehrämter eingeführt werden. Das erhöht die Flexibilität sonderpädagogischer Förderung in den allgemeinen Schulen.
  • In den Vorbereitungsdienst aller Lehrämter müssen die Fragen der Inklusion aufgenommen werden.
  • In der 3. Phase (Berufseinstieg) bzw. in der allgemeinen Lehrerfortbildung sollten Inklusions-Module angeboten werden, die auf Landesebene vorgehalten und von den Bezirken bzw. den Einzelschulen abgerufen werden können. Lehrkräfte, die erstmals in Integrationsklassen unterrichten, sollten verpflichtet werden, solche Angebote wahrzunehmen.
  • Es ist ein Fortbildungsschwerpunkt Inklusion mit Grundlagen-Workshops und Theorie-Praxis-Seminaren als Teil der Angebote zum Lernen in heterogenen Schülergruppen zu entwickeln.
  • Parallel sollte wieder ein berufsbegleitendes, zertifiziertes und durch Ermäßigungsstunden finanzierte Weiterbildungsangebot Integration/Inklusion eingeführt werden. Dadurch würde der hohe Bedarf sonderpädagogischer Kompetenz besser abgedeckt werden.
  • Die Schulen müssen im inklusiven Schulentwicklungsprozess unterstützt werden.

Der AK GEM fordert die Öffentlichkeit, alle Parteien, den Behindertenbeauftragten des Landes und alle Betroffenen und involvierten Institutionen auf, mit dem AK GEM auf eine zügige Verwirklichung eines inklusiven Schulsystems in Berlin hinzuwirken. Der Senat ist aufgefordert, engagiert tätig zu werden.

[1] In § 37.3 (letzter Satz) wird der Schulaufsicht im Konfliktfall zugebilligt, Kinder mit Förderbedarf gegen den Willen der Erziehungsberechtigten in Sonderschulen zu überweisen.