Archiv für den Monat: März 2011

Stellungnahme des AK Gem zum Senatsplan: „Gesamtkonzept ‚Inklusive Schule’. Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“: Zustimmung und Kritik

Verabschiedet in der Sitzung des AK Gem am 01.03.2011

Der AK Gem begrüßt es, dass der Berliner Senat seinen durch Beschluss des Abgeordnetenhauses eingeforderten Plan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) im Bereich Bildung endlich vorgelegt hat. Dieser Plan ist in vielen Punkten zustimmungsfähig, bei anderen muss deutlich nachgebessert werden. Der AK Gem setzt auf eine öffentliche Diskussion unter Einbeziehung aller Beteiligter, um den Weg zu einem inklusiven Berliner Schulsystem zügig zu erreichen.

Wir nehmen zu zentralen Punkten des Senatsplans wie folgt Stellung:

  1. Die UN-BRK argumentiert ausdrücklich menschenrechtlich, wenn sie das Recht des Kindes auf inklusive Bildung in der allgemeinen Schule hervorhebt . Daher sind die Bundesländer verpflichtet, ihre Schulgesetze entsprechend zu ändern – auch der Senat plant dies. Dennoch kritisiert der AK Gem, dass der Berliner Senat sich der konservativen Rechtsauffassung anschließt, Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf hätten (noch) kein unmittelbar einklagbares Recht auf Inklusion. Völker- und Verfassungsrechtler wie Riedel, Poscher/Langer/Rux, Platter und der Leiter der Monitoringstelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Aichele, sehen dies anders – deren Rechtsauffassungen werden nicht einmal erörtert. [1] Um so wichtiger ist es, dass Senat und Parlament umgehend das Schulgesetz anpassen.
  1. Der AK Gem begrüßt die kritische Aufarbeitung der seit Jahren steigenden allgemeinen Förderquote in Berlin und die extrem unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderquoten zwischen den Bezirken , auch bei sozial vergleichbaren Strukturen. Die vorgeschlagene Umsteuerung der personellen Ressourcen und die Orientierung an der gesamten Schülerschaft ist daher der richtige Weg. Auch die Berücksichtigung sozialer Faktoren bei der Verteilung an die Bezirke wird begrüßt. Die vorgesehene Differenzierung für die Förderschwerpunkte Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache (LES) (3,5% / 4,5% / 5,5%) sollte allerdings nach unten wie nach oben deutlicher ausfallen, um sozial besonders belastete Bezirke besser auszustatten.
  1. Als eine weitere Schlussfolgerung aus den weder sozial noch medizinisch oder diagnostisch begründbaren Bezirksdifferenzen sieht der Senat vor, die (noch verbleibende) Diagnostik zu zentralisieren . Die geplante Zentrale (mit rd. 45 Stellen, vgl. 3.6.1) mit Sonderpädagogen, die ausschließlich diagnostizieren, ist für die notwendige Sicherung gemeinsamer und transparenter Standards der Diagnostik nicht zwingend erforderlich. Für die bezirksübergreifende Entwicklung und Sicherung der begrüßenswerten Standards (vgl. 3.6.1) würden zwei Stellen für die jeweiligen Förderschwerpunkte (je eine Stelle Sonderpädagogik und allgemeine Pädagogik) ausreichen. Die übrige Diagnostik könnte auch in den geplanten bezirklichen Beratungs- und Unterstützungszentren erfolgen. Die zu Recht angestrebte Interessenneutralität wäre damit deutlich besser als gegenwärtig gewährleistet. Dabei ist sicherzustellen, dass sowohl in der zentralen Diagnostik für Standardsicherung als auch in den bezirklichen Beratungs- und Unterstützungszentren Teams aus erfahrenen Sonderpädagogen und solchen der allgemeinen Schule gebildet werden.
  1. Begrüßt wird, dass die Sonderpädagogen-Stellen für LES in den allgemeinen Schulen verankert werden. Außerdem beendet der Senat mit einer gemeinsamen sonderpädagogischen Ressourcenplanung die ungerechte „Deckelung“ der Ausstattung für den gemeinsamen Unterricht. Das Festhalten an dem bisherigen Ausstattungsfaktor im Bereich LES mit 2,5 h (Grundschule) bzw. 3,0 h (Sekundarstufe) pro (rechnerischem) Förderfall ist jedoch zu gering. Der AK Gem plädiert für eine Anhebung auf 3,5 h, die dann auch in der Einzelschule bzw. Klasse „ankommen“ muss.
  1. In der Senatsvorlage wird (vgl. 4.2) für die Ausstattung LES in der Sekundarstufe mit durchschnittlich 3,5% LES-Kinder ein geringerer Ansatz als in der Grundschule (4,5%) angenommen. Das wird an keiner Stelle begründet, sondern erscheint nur in der Beispielrechnung für die Ausstattung einer Integrierten Sekundarstufe (ISS). Soweit hier kein Versehen vorliegt, ist diese Absenkung keinesfalls akzeptabel. In der Sekundarstufe ist der Förderbedarf im Bereich Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache keinesfalls geringer als in der Grundschule.
  1. Die an die allgemeinen Schülerzahlen (und soziale Faktoren) und nicht mehr an Feststellungsdiagnostik gebundene neue Berechnungsart für die Ausstattung im Bereich LES schafft für die Landes- und die Bezirksebene Klarheit und Fairness. Die Beispiele der Weitergabe an die Einzelschulen, wie sie in 4.2 dargestellt sind, enthalten jedoch vor allem für die Sekundarstufe einen grundsätzlichen Denkfehler : Der Bezirk erhält nicht nur für die Grundschüler, sondern auch für alle Sekundarschüler eine auf die gesamten Schülerinnen und Schüler bezogene Förderquote (in der Grundschule 4,5%, das muss auch für die Sekundarstufe gelten, siehe Punkt 5,). In dieser Schülerzahl sind auch alle Gymnasiasten enthalten. Da LES-Ressourcen kaum an die Gymnasien gehen [2] , stehen die Mittel für die übrigen Schulen – also ISS und Gemeinschaftsschulen zu. Einem Bezirk, in dem 50% der Jugendlichen ab Klasse 7 das Gymnasium besuchen, stehen also bezogen auf die Schülerzahl in den ISS/Gemeinschaftsschulen nicht 4,5%, sondern 9% zur Verfügung. Denn sie übernehmen die sonderpädagogische Förderung im Bereich LES für den gesamten Bezirk. Selbst bei dem Senatsfaktor 3,0 h pro Förderkind LES ergäben sich dann doppelt so viele VZE Sonderpädagogik für die beispielhaft genannte vierzügige ISS. Würde nicht so verfahren, hätte der Bezirk rund 50% der erhaltenen Ressource nicht weitergegeben – und die Integrierten Sekundarschulen und Gemeinschaftsschulen zu wenig Unterstützung. [3]
  1. Der Senat will für die Bereiche Lernen und Sprache weiterhin Sonderschulen pro Bezirk vorhalten. Kinder in diesen Förderschulen leben weit überwiegend in sozial belasteten Familien (78% aller Berliner Förderschüler sind aus Familien mit staatlichen Transferleistungen!). Mit dem Argument des „Elternwahlrechts“ die Aufrechterhaltung von Förderschulen pro Bezirk zu planen, ist daher höchst fragwürdig. Während es bei der Strukturreform der Sekundarstufe in Berlin (aus gutem Grund) kein „Elternwahlrecht“ auf Aufrechterhaltung von Realschulen und Hauptschulen gab, soll dies für Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf gelten. Die UN-BRK spricht jedoch nicht vom Elternwahlrecht, sondern vom Recht des Kindes auf inklusive Bildung in Grund- und Sekundarschulen. Die Förderschulen Lernen und Sprache sollten deshalb generell jahrgangsweise keine neuen Schüler/innen mehr aufnehmen und mittelfristig auslaufen, während das Personal in die allgemeinen Schulen integriert wird. Dann könnte zugleich landesweit auf die gesamte aufwändige Feststellungsdiagnostik in den Förderschwerpunkten LES zugunsten verstärkter schulinterner Förderdiagnostik verzichtet werden.
  1. Der AK Gem sieht im Konzept, für die Förderschwerpunkte geistige und körperliche Entwicklung, Hören und Sehen allgemeine Schwerpunktschulen – aller Schulformen, auch des Gymnasiums – in den Bezirken aufzubauen und dafür die personellen und sächlichen Ausstattungen bereit zu stellen, die Absicht, den gemeinsamen Unterricht auch mit Schülerinnen und Schülern dieser Behinderungen auszubauen. Die hier vermutete Steigerung inklusiver Bildung um 10% innerhalb von vier Jahren ist allerdings äußerst restriktiv. Selbstverständlich kann das Konzept von Schwerpunktschulen nicht bedeuten, dass alle anderen Schulen vom Anspruch auf Inklusion dieser Förderschwerpunkte ausgenommen sind; dies wird in der Senatsvorlage ebenfalls betont (vgl. 3.3.3). Der Aufbau von Schwerpunktschulen kann nur ein Zwischenschritt beim kontinuierlichen Ausbau der allgemeinen Schulen zu inklusiven Schulen sein. Dies gilt insbesondere für die nach Einzugsbereichen organisierten Grundschulen; wohnortnahe Beschulung ist daher auch für die Kinder mit oben genannten Förderschwerpunkten anzustreben.
  1. Inklusion kann nicht am Ende der Sekundarstufe I der allgemeinen Schule aufhören. Es fehlt in der Senatsvorlage ein Konzept zur Umsetzung der Inklusion in der Sekundarstufe II und in der beruflichen Bildung . Der AK Gem fordert eine zeitnahe Erarbeitung entsprechender Konzepte.
  1. Der AK Gem begrüßt die Einrichtung von pro Bezirk je einem unabhängigen Beratungs- und Unterstützungszentrum (BuZ) ohne Schüler und eigenen Unterricht. Sie sind außerordentlich wichtig für die bezirkliche Begleitung der Inklusion von Anfang an (d.h. einschließlich der Frühförderung). Diese neuen interdisziplinären Einrichtungen (ohne Unterricht) sollten auch als Ombudsstellen und als Antragsstellen (für Anträge im Sinne des SGB) bürgernah und niedrigschwellig eingerichtet werden. Wie unter Punkt 3 vorgeschlagen, sollte in den bezirklichen Beratungs- und Unterstützungszentren auch die Feststellungsdiagnostik für die Förderschwerpunkte geistige und körperliche Entwicklung, Hören und Sehen erfolgen. Generell sollten die bezirklichen Ressourcen für gesundheitliche, entwicklungsbezogene und unterrichtsbezogene Förderung unterschiedlicher Kostenträger besser aufeinander bezogen werden. Um dies zu erreichen, könnten die BuZ eine koordinierende Aufgabe übernehmen.
  1. Der konsequente Ausbau inklusiver Bildung verlangt eine Steigerung der Kompetenzen im Umgang mit Heterogenität, sowohl bei allgemeinen wie bei Sonderpädagogen. Zentrales Instrument ist die Ausweitung inklusionsbezogener Fortbildung für allgemeine und sonderpädagogische Lehrkräfte auf einzelschulischer, bezirklicher und Landesebene. Da an Förderschulen nur 38% der Lehrkräfte sonderpädagogisch aus- oder weitergebildet sind (vgl. 8.4.2), müssen für die inklusive Schule auch mehr Sonderpädagogen ausgebildet werden. Auch sollte Sonderpädagogik in allen Lehrämtern als Zweitfach studiert werden können, wie es zurzeit nur für das Berufsschullehramt möglich ist. Nicht zuletzt unterstützt der AK Gem die Wiederaufnahme eines Weiterbildungsstudienganges Inklusion.
  1. Die UN-BRK zielt nicht zuletzt auf die gleichberechtigte Partizipation aller Akteure , insbesondere auch der Kinder mit Behinderungen und ihrer Familien. Das muss auch für die Umsetzung der Inklusion in Berlin gelten. Der AK Gem fordert den Berliner Senat auf, öffentlicher als bislang und kontinuierlich mit allen Beteiligten den Prozess inklusiver Bildung mit all seinen Voraussetzungen und Herausforderungen zu diskutieren und für Inklusion zu werben. Er sollte einen Inklusionsrat schaffen, in dem alle Akteure und Betroffenen vertreten sind, der diese Diskussionen aufgreifen und produktive Anregungen für die Entwicklung geben kann.

[1] Vgl. Aichele (2010): Stellungsnahme der Monitoring-Stelle zur UN-BRK; www.institut-fuer-menschenrechte.de.- Platter (2010) (Parlamentarischer Beratungsdienst Landtag Brandenburg): Rechtsfragen zur Implementation der UN-BRK.- Riedel (2010): Zur Wirkung der internationalen Konvention…www.gemeinsam-leben-nrw.de.- Poscher/Langer/Rux (2008): Gutachten zum völkerrechtlichen Recht auf Bildung und seiner innerstaatlichen Umsetzung. GEW Bund.

[2] 2009/10 betrug die Förderquote Sek I insgesamt 6,9%, Sek I ohne Gymnasien 11,2%, nur Gymnasien 0,2%. Quelle: Blickpunkt Schule, Schj. 2009/10, eigene Berechnung.

[3] Da in den Klassen 5-6 landesweit knapp 10% grundständige Gymnasien besuchen, gilt reduziert das gleiche Problem: Die vom Land dem Bezirk zugewiesenen Mittel für 4,5% LES-Kinder sind in Kl. 5-6 der Grundschulen um 10% zu erhöhen, sonst bleiben die Mittel beim Bezirk. Sie könnten allerdings auch für Härtefälle verwendet werden – in jedem Fall müssen die Mittel im Bezirk in ihrer Verwendung ausgewiesen werden.