Archiv für den Monat: Februar 2007

10 Forderungen des Arbeitskreises Gemeinsame Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen (AK Gem) zum Berliner Pilotprojekt „Gemeinschaftsschule“ aus integrationspädagogischer Sicht

Berlin, im März 2007

Der Arbeitskreis Gemeinsame Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderungen (AK Gem) begrüßt die mit dem Projekt Gemeinschaftsschule zu erwartende Stärkung integrativer Entwicklungen im Berliner Schulwesen. Um diese Stärkung zu sichern, hält der AK Gem folgende Maßnahmen für erforderlich, die er in seiner Sitzung am 27.02.2007 beschlossen hat:

  1. Gemeinschaftsschulen sind Integrationszuschulen. Jede Gemeinschaftsschule des Pilotprojektes ist „Integrationsschule“, d.h. sie nimmt Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf. Die Gemeinschaftsschulen orientieren sich dabei an den Konzepten wohnortnaher Integration. Die Schülerinnen und Schüler der Gemeinschaftsschulen spiegeln die Sozialstruktur des Wohnumfelds wider.
  2. Integrative Klassen mit Normalisierungsprinzip . Integrative Klassen der Gemeinschaftsschulen orientieren sich in ihrer Zusammensetzung am bisherigen Berliner Konzept der „Normalisierung“ (max. drei Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf) und werden im Schnitt mit 12 h Sonderpädagogik zusätzlich ausgestattet. Bei Schülern, die blind, gehörlos, geistig oder schwermehrfach behindert sind, fallen entsprechend dem Organisationsrundschreiben der Bildungsverwaltung mehr Stunden an.
  3. Frequenzobergrenze 25 , Geschlechterverteilung . Unter dem Aspekt notwendiger Binnendifferenzierung ist es erforderlich, dass für die integrativen Klassen der Gemeinschaftsschule grundsätzlich eine Frequenzobergrenze von 25 eingeführt wird. Bei der Zusammensetzung wird darauf geachtet, dass der Anteil der Jungen und Mädchen gleich groß ist.
  4. Beratungs- und Servicezentrum Förderung einrichten . An jeder Gemeinschaftsschule wird eine Beratungs- und Serviceeinrichtung geschaffen. Die Beratungs- und Serviceeinrichtung koordiniert und begleitet die sonderpädagogische und ggf. auch sozialpädagogische Förderung, berät Eltern, Lehrkräfte und Schüler/innen bei spezifischen, mit der besonderen Förderung verbundenen, Fragen, pflegt Kontakte zur Jugendhilfe und anderen schulexternen Einrichtungen und bringt bei Veränderungsbedarf Vorschläge in die schulinternen Gremien und in die Projektgruppe des Pilotprojektes Gemeinschaftsschule ein. Dafür wird pro Schule eine Stelle mit spezieller Kompetenz (vor allem im Bereich der Lern- und Verhaltensförderung) eingerichtet. Im Hinblick auf die Koalitionsvereinbarung, die auf den kontinuierlichen Transfer des Pilotprojektes verweist, ist zu prüfen, ob eine Einrichtung an allen Schulen der Grund- und Sekundarstufe erfolgen kann, in deren Praxis die Integration von Kindern mit Behinderungen gemäß der Festlegung im Berliner Schulgesetz (sonderpädagogische Förderung vorrangig im gemeinsamen Unterricht) einen hohen Stellenwert hat.
  5. Finanzen bisheriger Sitzenbleiber umleiten . Der AK Gem begrüßt, dass die Klassenwiederholung in der Gemeinschaftsschule als eine sowohl sozial wie lernbezogen ineffektive Maßnahme nicht vorgesehen ist. Der bislang im Berliner Schulsystem dokumentierte durchschnittliche finanzielle Aufwand für Wiederholer pro Jahrgangskohorte ist als pauschale gesonderte Ressource kostenneutral an den einzelnen Schulen für gezielte Förderung einzusetzen. Von den einzelnen Pilotschulen ist eine klare Aussage zu verlangen, wie diese Mittel pädagogisch für leistungsschwache Schülerinnen und Schüler verwendet werden und wie der Erfolg evaluiert wird.
  6. Getrennte Rahmenpläne zusammenführen . Die bislang getrennten Rahmenpläne Lernen und geistige Entwicklung werden integriert in die der allgemeinen Schulstufen, wie dies beispielsweise in Schleswig-Holstein verwirklicht ist. Das erleichtert die Kommunikation zwischen den im Team arbeitenden Lehrkräften unterschiedlicher Lehrämter und die Information über ausbildungsfremde Fragestellungen.
  7. Neue Formen der Dokumentation der Lernleistungen und Persönlichkeitsentwicklung . Die Antwort auf Heterogenität in den Lern- und Entwicklungsprozessen verlangt individualisierte, inhaltlich klar ausgewiesene Formen der Lernentwicklungsdokumentation (z.B. Pensenbücher, Lernbücher, Portfolios u.a.). Dies ermöglicht es Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderungen, leichter ihre individuellen Lernwege auch im Rahmen des Klassenverbundes und des Wahlpflichtbereichs zu gehen. Zugleich erhalten Eltern und später Berufseinrichtungen oder Lehrkräfte der Sekundarstufe II genauere Informationen über die inhaltlichen Kompetenzen der Absolventen.
  8. Wissenschaftliche Begleitung als Prozess . Die in den Pilotschulen unterschiedliche Umsetzung der integrativen Zielsetzung der Gemeinschaftsschulen wird im Rahmen einer prozessorientierten wissenschaftlichen Begleitung dokumentiert und unter dem Aspekt der Optimierung und Übertragbarkeit ausgewertet. Das schließt den Blick auf die Maßnahmen innerhalb und außerhalb des Unterrichts für leistungsschwächere, behinderte und leistungsstärkere Schüler/innen ein (personelle Ressourcen, erforderliche didaktische, interkulturelle und kommunikative Kompetenzen, Raum- und Gestaltungsaspekte, Beratungs- und Vernetzungsfragen usw.).
  9. Fortbildung im Prozess der Pilotphase. Die Erfahrungen mit heterogenen Lerngruppen, die die Berliner Schulen mit integrativen Klassen im Primar- wie im Sekundarbereich seit langem gesammelt haben, sind durch schulinterne Fortbildung den Pilotschulen zu vermitteln. Diese Erfahrungen sind auch jenseits der Behindertenintegration für die Förderung leistungs- und verhaltensheterogener Lerngruppen wichtig.
  10. Integrative Lehrerbildung ausbauen . Der AK Gem fordert, dass sowohl in der gestuften Lehrerausbildung als auch im Referendariat integrationspädagogische Grund- und Praxisfragen verbindlich verankert bleiben bzw. werden. Künftige Sonderpädagogen müssen an integrativen Schulen, auch an Gemeinschaftsschulen, ihre gesamte fachliche Ausbildung absolvieren können, wenn entsprechende Mentoren vorhanden sind.

Stellungnahme des AK GEM zur Entwurfsfassung zur Verordnung zur Änderung der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung (Fassung 22.2.07)

Der AK GEM begrüßt die in § 31 wieder eingeführte Möglichkeit, für den Bereich Lernen und Verhalten („Emotionale und soziale Entwicklung“) bei eindeutigen Hinweisen vor der Einschulung bzw. während der Schulanfangsphase wieder individuelle sonderpädagogische Förderung zu beantragen. Das hat der AK GEM in seiner Stellungnahme zur SopäV von 2004 schon gefordert. Damit trägt die Bildungsverwaltung den ersten Erfahrungen mit der Schulanfangsphase Rechnung und berücksichtigt einen wesentlichen diagnostischen Aspekt. Der AK GEM weist allerdings darauf hin, dass bislang die Anfangsdiagnostik für alle Kinder noch zu wenig gründlich und umfassend gestaltet ist und hier weiterer Fortbildungsbedarf für Grundschullehrkräfte und Sonderpädagogen besteht.

Der AK GEM begrüßt die in § 32, Absatz 8 neu eingeführte Regelung, dass regionale Überschreitung der Referenzwerte für die Förderschwerpunkte Sprache, Lernen und Emotionale und soziale Entwicklung von der Schulaufsicht zu begründen sind.

Um die Gemeinsame Erziehung und Unterrichtung (GU) entsprechend dem Berliner Schulgesetz (Vorrang des GU) und der Koalitionsaussage der gegenwärtigen Regierung besser zu entwickeln, fordert der AK Gem Änderungen an dem uns vorliegenden Entwurf in folgenden Punkten:

1. § 4 , Absatz 2 : Durch das Ersetzen der Konjunktion „oder“ durch „und“ ist eindeutig eine Einschränkung der Integrationsmöglichkeiten in der Sekundarstufe vorgesehen.

Zitat: „Schulen, die die Integration in ihrem Schulprogramm besonders ausgewiesen haben und die Kooperationen zur Übernahme von Lerngruppen aus dem gemeinsamen Unterricht an der Grundschule vereinbart haben, können darüber hinaus mit Genehmigung der Schulaufsichtsbehörde integrative Klassen einrichten.“ Der AK GEM sieht in der Verknüpfung der genannten zwei Bedingungen zur Einrichtung von Integrationsklassen eine Einschränkung der schulischen Möglichkeiten, diese Klassen einzurichten. Hier muss es weiterhin „oder“ heißen.

(siehe dazu auch unseren Hinweis zu § 20)

2. § 4, Absatz 10: Der AK GEM fordert die Streichung dieses Absatzes. Eine Koordination des Einsatzes von Sonderschullehrern/innen ausschließlich durch die sonderpädagogischen Förderzentren ergibt weder fachlich noch organisatorisch einen Sinn. Jede Schule, die Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf beschult, hat Anspruch auf die entsprechenden fachlichen Ressourcen. In jeder Schule sollte ein Sonderpädagoge die kollegiale Beratung und Beratung der Eltern und Schüler, die Koordination des Mitteleinsatzes und die Begleitung der Hilfepläne übernehmen. Der AK Gem fordert erneut, dass jede Schule mit entsprechender Gesamtschülerzahl mindestens eine Vollzeitstelle Sonderpädagogik (insbesondere mit den Schwerpunkten Lernen/Verhalten) hat, die als Koordination innerhalb der Schule fungieren kann. (Die Zuweisung der Stunden bleibt Aufgabe der Schulaufsicht.)

3. § 18, Absatz 4: Wir erachten es als Widerspruch zum Schulgesetz, das in Absatz 4 steht: „Genügt der Umfang der sonderpädagogischen Fördermöglichkeiten (gemeint sind vermutlich die Förderstunden) nicht mehr dem individuellen Bedarf…ist… zu prüfen, ob die Schülerin oder der Schüler weiterhin eine allgemeine Schule besuchen soll“. Bei einem gesetzlich garantiertem Vorrang der Integration und entsprechendem Elternwunsch müsste zunächst geprüft werden, ob die betreffende Schule nicht bedarfsgerecht ausgestattet werden kann oder – wenn dies aus wichtigen Gründen nicht möglich ist –eine andere allgemeine Schule diese Voraussetzungen erfüllt. Der AK GEM fordert die Streichung dieses Absatzes, da er unnötigerweise eine Beschulung in einer Sondereinrichtung präjudiziert.

4. § 20, Absatz 4 : Die Begrenzung integrativer Klassen in der Sekundarstufe ist grundsätzlich abzulehnen. Es gibt keinerlei nachvollziehbaren Gründe, warum eine Schule im Rahmen ihrer größeren Selbständigkeit als Teil ihres Schulprogramms und Profils nicht beschließen dürfte, dass alle ihre Klassen, soweit Nachfrage besteht, Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf aufnehmen.

5. § 31, Absatz 5 und 6: Ausgehend vom schulgesetzlich festgelegten Vorrang der Integration lehnt der AK Gem die in den Absätzen 5 und 6 getroffenen Formulierungen ab, dass „Koordinierungsstellen .von der regionalen Schulaufsicht in der Regel an Sonderpädagogischen Förderzentren eingerichtet“ (werden) und „über den Antrag entscheidet die Schulaufsichtsbehörde nach Klärung der individuellen Voraussetzungen durch die Koordinierungsstellen. Die Entscheidung ist den Erziehungsberechtigten, der Schule und dem fachlich zuständigen Sonderpädagogischen Förderzentrum schriftlich mitzuteilen“. Damit werden die Förderzentren zu Richtern über den Gemeinsamen Unterricht – und sie sind per se nicht unbefangen, hängt doch ihre Existenz an einem Minimum von Schülern ab, die nicht integriert werden.

Es erscheint uns geradezu absurd, den Sonderschulen für Lernbehinderte eine dermaßen einflussreiche Stellung zuzuweisen. Demgegenüber fordert der AK GEM seit langem schulunabhängige Koordinationsstellen, die nur der Schulaufsicht unterstehen. In unserer Stellungnahme zum Pilotprojekt Gemeinschaftsschule haben wir im Übrigen angeregt, innerhalb größerer Integrationsschulen Koordinations- und Beratungszentren innerhalb der Schulen einzurichten, die für alle Aspekte von Förderung und Beratung – auch über die Sonderpädagogik hinaus – zuständig sind.

Der AK Gem empfiehlt dringend, den Entwurf der Veränderung der Sonderpädagogischen Verordnung entsprechend zu verändern.