Empirische Befunde zum Gemeinsamen Unterricht!

Irene Demmer-Dieckmann 18.11.2008 Ulf Preuss-Lausitz (beide Institut für Erziehungswissenschaft an der TU-Berlin)

Bildungspolitische Entscheidungen sind das eine, empirische Forschungsbefunde das andere. Zu welchen empirischen Ergebnissen sind internationale wie nationale Forschungen in den letzten 30 Jahren gekommen und welche Impulse geben sie für die Bildungspolitik?

Ergebnisse auf der Leistungsebene Untersucht wurde mehrfach die Frage, ob Kinder mit Förderbedarf im Gemeinsamen Unterricht (GU) ständig überfordert und nicht angemessen gefördert würden. Zahlreiche internationale wie nationale Leistungsvergleiche belegen übereinstimmend das Gegenteil: Behinderte, nicht nur lernbehinderte Kinder lernen in integrativen Settings deutlich mehr als in Sonderklassen und Sonderschulen (Bless 1995, Haeberlin u.a. 1990, Hildeschmidt/Sander 1996; Myklebust 2006; Tent u.a. 1991; Wocken 2007). Unterschiede in heterogenen Lerngruppen wirken sich gerade für schwächere Schülerinnen und Schüler leistungssteigernd aus, ein Befund, der sich auch bei PISA bestätigte. Die Leistungsentwicklung verhaltensauffälliger Schüler erfuhr im GU ebenfalls eine deutliche Stabilisierung und eine verbesserte Sozialprognose (Preuss-Lausitz 2005). Auch bei Schülern mit geistiger Behinderung konnten in der Primar- und Sekundarstufe I positive Leistungs- und Sozialentwicklungen nachgewiesen werden, teilweise in dramatischen Lernsprüngen, vereinzelt aber auch unterbrochen durch Phasen der Stagnation (Köbberling/Schley 2000; Maikowski/Podlesch 2002). Für die Förderschwerpunkte körperliche und motorische Entwicklung und Sinnesbehinderungen liegen bislang nur wenige Studien vor (das gilt für GU wie für Sonderschulen), die vor allem Interaktionsprozesse qualitativ beobachteten. Diesen positiven GU-Ergebnissen entsprechen zahlreiche Studien, die die kognitive und soziale Ineffizienz der Schule für Lernbehinderte belegen. Tent (1991) und jüngst Wocken (2007) weisen nach, dass die Intelligenz- und Leistungsentwicklung umso ungünstiger verläuft, je früher Schüler in Lernbehindertenschulen überwiesen werden; umso günstiger, je länger sie in Regelschulen unterrichtet werden (bei gleichem IQ und gleicher sozialer Herkunft). Seit Jahrzehnten wird immer wieder beschrieben, dass die Schule für Lernbehinderte eine Schule für Kinder von arbeitslosen, armen und oft kinderreichen Eltern ist, in der vor allem Jungen und (im Westen) Kinder mit Migrationshintergrund überrepräsentiert sind (Begemann 1970; Hildeschmidt/Sander 1996; Wocken 2007). Diese Kinder am Rande der Gesellschaft werden durch die schulische Aussonderung zusätzlich bestraft.

Schonraum als Schonraumfalle: Ein Systemeffekt Das kognitive und sozial anregungsreduzierte Entwicklungs- und Lernpotenzial ausgelesener Lerngruppen ist Hauptursache für die schlechten Ergebnisse, die zu „kognitiver Friedhofsruhe“ und didaktischem Reduktionismus führen kann (Wocken 2006). Diese Gefahr kann durch die Chancen kleinerer Klassen und durch spezialisierte Lehrkräfte kaum kompensiert werden. Aufgrund der empirischen Befunde müsste daher die Schule für Lernbehinderte schon längst – ähnlich wie die Hauptschule – durch integratives Lernen in allgemeinen Schulen ersetzt werden.

Behindern Behinderte die Nichtbehinderten? Manche Eltern sind oft vor Beginn des GU verunsichert und fürchten, dass behinderte Kinder die Leistungsentwicklung der nichtbehinderten beeinträchtigen könnten: Mehrere Studien belegen, dass dies nicht der Fall ist. Nichtbehinderte Kinder sind in der Primar- und in der Sekundarstufe I gleich gut wie in Klassen ohne GU, in einigen Studien erreichen sie sogar bessere Leistungen als in nichtintegrativen Klassen (Feyerer 1998; Preuss-Lausitz 2002; Wocken 1999). Auch besonders begabte Kinder (IQ >117) werden in ihrer kognitiven Entwicklung nicht behindert und in ihrer sozialen zusätzlich gefördert (Bless/Klaghofer 1991; Feyerer 1998).

Soziale Integration und Schulzufriedenheit Soziale Integration und Schulzufriedenheit sind zentrale Ziele des GU. Die Empirie zeigt nun erstaunlich hohe Zufriedenheitswerte von integrierten Förderkindern (Preuss-Lausitz 1997) und üblicherweise ein gutes Maß sozialer Integration (Voraussetzung: keine Sonderunterrichtung in einer dauerhaften Kleingruppe, Förderung im Klassenraum). Je länger die Phase des gemeinsamen Lernens dauert, umso besser sind sie integriert. Probleme gibt es – das ist wenig überraschend – bei der Integration von Kindern mit aggressivem Verhalten. Aggressive Kinder sind überall unbeliebt – hier sind gezielte pädagogische Interventionen nötig. Integrationsklassen fördern ein positives Klassenklima, weil insgesamt stärker auf individuelle Wünsche eingegangen wird. Durch den Umgang mit Verschiedenheit wird nachweislich Toleranz und Hilfsbereitschaft gefördert (Preuss-Lausitz 1998). Viele Kinder mit Lernerschwernissen fühlen sich im GU wohl. Aber die Pubertät ist auch im GU eine schwierige Phase. Pubertätsprobleme und Konflikte sind Anlässe für eine gemeinsame Suche nach Lösungen. Gegen Ende der Sekundarstufe werden sie in der Regel überwunden (Köbberling/Schley 2000).

Erfahrung fördert Akzeptanz der Eltern Wer keine Erfahrung mit dem GU hat, ist oft skeptisch. Wer Erfahrungen sammelt, ist zufrieden. Die Akzeptanz bei Eltern von Kindern mit und ohne Behinderung ist groß und steigt mit der Dauer der integrativen Erfahrung (Preuss-Lausitz 1997).

Fazit Die empirische Forschung zeigt: Durch den Weg der Sonderbeschulung wird das Ziel der gesellschaftlichen Teilhabefähigkeit von behinderten und sozial benachteiligten Kindern weniger erreicht als durch gemeinsame Erziehung. Eben deshalb ist Integration in der inklusiven allgemeinen Schule, mit entsprechend kompetentem Personal, für alle Förderkinder die richtige Perspektive – wie viele Staaten vormachen. Die Forschungsergebnisse sprechen eine klare Sprache und sollten bildungspolitisch stärker berücksichtigt werden, um durch integrative Beschulung mehr Bildungsgerechtigkeit und soziale Partizipation zu erreichen (Demmer-Dieckmann 2007; Preuss-Lausitz 2007). Der Rechtsanspruch auf gemeinsame Erziehung erhält durch die Forschung eine deutliche Bekräftigung.

Literaturverzeichnis Begemann, E. (1970): Die Schule der sozio-kulturell benachteiligten Schüler. Hannover: Schrödel. Bless, G. (1995): Zur Wirksamkeit der Integration. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt. Bless, G./Klaghofer, R. (1991): Begabte Schüler in Integrationsklassen. In: Z. f. Pädagogik (37) H. 2, S. 215-222. Demmer-Dieckmann, I. (2007): Bildungsarmut durch Selektion – Bildungsreichtum durch Integration. In: Oberwien, B./Prengel, A.: Recht auf Bildung – Zivilgesellschaftliche Stimmen zum Besuch von Vernor Muñoz in Deutschland. Opladen & Farmington Hills: Budrich, S. 153-162. Feyerer, E. (1998): Behindern Behinderte? Integrativer Unterricht in der Sekundarstufe I. Innsbruck/Wien: Studienverlag. Haeberlin U./Bless, G. /Moser, U. /Klaghofer, R. (1990): Integration der Lernbehinderten. Bern/Stuttgart. Haupt. Hildeschmidt, A./Sander, A. (1996): Zur Effizienz der Beschulung sogenannter Lernbehinderter in Sonderschulen. In: Eberwein, H. (Hrsg.): Handbuch Lernen und Lern-Behinderungen. Aneignungsprobleme – Neues Verständnis von Lernen – Integrationspädagogische Lösungsansätze. Weinheim/Basel: Beltz, S. 115–134. Köbberling, A./Schley, W. (2000): Sozialisation und Entwicklung in Integrationsklassen. Weinheim/München: Juventa. Maikowski, Rainer/Podlesch, Wolfgang (2002): Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung in Grundschulen und in der Sekundarstufe. In: Eberwein, H. (Hrsg.): Handbuch der Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Behinderung lernen gemeinsam. 6. Auflage. Weinheim/Basel: Beltz, S. 349-357. Myklebust, J.D. (2006): Clacc placement and competence attainment among students with spezial educational needs. In: British Journal of Special Education (33), No. 2, P. 60-69. Preuss-Lausitz, U. (1997): Erfahrungen fördert Akzeptanz. Elternmeinungen zur gemeinsamen Erziehung. In: Heyer, P./Preuss-Lausitz, U./Schöler, J.: „Behinderte sind doch Kinder wie wir!“ Gemeinsame Erziehung in einem neuen Bundesland. Berlin: Wissenschaft und Technik Verlag, S. 151-170. Preuss-Lausitz, U. (1998): Bewältigung von Vielfalt – Untersuchungen zu Transfereffekten gemeinsamer Erziehung. In: Hildeschmidt, A. / Schnell, I. (Hrsg.): Integrationspädagogik. Weinheim/München: Juventa, S. 223-240. Preuss-Lausitz, U. (2002): Integrationsforschung. Ansätze, Ergebnisse und Perspektiven. In: Eberwein, H. (Hrsg.): Handbuch der Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Behinderung lernen gemeinsam. 6. Auflage. Weinheim/Basel: Beltz, S. 458–470. Preuss-Lausitz, U. (Hrsg.)(2005): Verhaltensauffällige Kinder integrieren. Weinheim/Basel: Beltz. Preuss-Lausitz, U. (2007): Gerechtigkeit durch Integrationspädagogik. In: Fischer, D./Elsenbast, V. (Hrsg.): Zur Gerechtigkeit im Bildungswesen. Münster: Waxmann, S. 72-77. Tent, L./Witt, M./Zschoche-Lieberun, Chr./Bürger, W. (1991): Ist die Schule für Lernbehinderte überholt? In: Heilpädagogische Forschung (17), H. 1, 3-13. Wocken, H. (1999): Schulleistungen in heterogenen Lerngruppen. In: Eberwein, H.: Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Behinderung lernen gemeinsam. Weinheim/Basel: Beltz S. 315-320. Wocken, H. (2006): Kognitive Friedhofsruhe. In: Frankfurter Rundschau vom 11.7.2006, S. 27. Wocken, H. (2007): Fördert Förderschule? Eine empirische Rundreise durch Schulen für „optimale Förderung“. In: Demmer-Dieckmann, I./Textor, A. (Hrsg.): Integrationsforschung und Bildungspolitik im Dialog. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 35–59.