Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an privaten Schulen Berlins

Privatschulen und sonderpädagogische Förderung Berlin; 25. 6. p-l

1. Die Un-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die seit 2009 innerstaatliches Recht durch Bundestag und Bundesrat einstimmig übernommen wurde, ist damit auch im Land Berlin gültig. In ihr wird in Art. 24 für das gesamte – auch privat organisierte – Bildungssystem das Recht auf „voll inclusion at all levels“ des Bildungssystems verankert. Sie gilt damit auch in den Privatschulen. Im Land Berlin scheint jedoch wenig transparent und vielen nicht klar zu sein, wie die gegenwärtige Finanzierung dieses Bereichs im privaten Schulwesen ist und ob die Privatschulen sich der inklusiven/integrativen Aufgabe überhaupt stellen. Anlass für den AK Gem, diese Frage zu diskutieren, war ein Konflikt um die ev. Gemeinschaftsschule Zentrum, zu deren schriftlichem Profil auch die Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf gehört. Sie hat bei SenBWF beantragt, dass sie für die Aufnahme von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Schülern mit SEN [1] personenbezogene zusätzliche sonderpädagogische Lehrerstunden erhält entsprechend den Verfahren im öff. Schulwesen und auch in öff. Gemeinschaftsschulen. SenBWF hat dies abgelehnt mit der Begründung, allen Privatschulen flössen entsprechende Mittel zu entsprechend der Ausstattung in den öffentlichen Schulen (vgl. unten). Ganz offensichtlich war der beantragenden Schule wie vielen anderen Lehrkräften bei freien Schulträgern nicht klar, dass in ihren Zuweisungen auch Mittel für sonderpädagogische Förd4erung enthalten sind. Der AK Gem nimmt diesen Konflikt zum Anlass, sich mit der derzeitigen Finanzierung der Sonderschulen bzw. mit der Integration in den Berliner Privatschulen auseinander zu setzen und neue, inklusionsförderliche und transparente Finanzierungsformen vorzuschlagen. Die erste Fassung dieses Papiers wurde im Juni 2009 im AK Gem mit Vertretern freier Träger diskutiert; Anregungen aus dieser Diskussion fließen in die Vorlage ein.

2. Daten für das Land Berlin [2] :

Tab. 1: Schüler/innen mit SEN in Privatschulen

03/04

07/08

Schüler/innen mit SEN in privaten Sonderschulen

551 [3] (davon Jungen 60,5%

649 [4] (davon Jungen 60,2%)

Schüler/innen mit SEN in privaten allg. Schulen (Integration)

39 (davon Jungen 69,2%)

66 (davon Jungen 57,6%)

Summe: Schüler/innen mit SEN in allen privaten Schulen

590

715

Schulformen, die die integrierten Schüler/innen mit SEN aufnehmen

39 Schüler/innen: 22 in GS [5] , 5 in Gy, 12 in IGS

66 Schüler/innen: 56 in GS, 1 in HS, 2 in RS, 2 in Gy, 5 in IGS

Anteil Schüler/innen mit SEN an allen privaten Schülern

Bezug GS 1,8% Sek I 1,3% Sek II 0,0%

Bezug GS 1,4% Sek I 1,3% Sek II 0,0%

Anteil Schüler/innen mit SEN an allen öff. Schulen (zum Vergleich)

Bezug GS 3,9% Sek I 3,9% Sek II 0,1%

Bezug GS 3,4% Sek I 4,2% Sek II 0,1%

Im Schuljahr 2008/09 bestanden 110 private schulische Einrichtungen, darunter 9 Sonderschulen, mit zusammen 24.721 Schülerinnen und Schülern. Hinzuweisen ist, dass die Finanzierung der privaten Sonderschulen und Sonderklassen automatisch erfolgt. Ein anerkannter privater Träger hat extra eine Sonderschule gegründet (und genehmigt erhalten), und die Mittel anschließend für Integration verwendet. Diese Finanzierungsweise widerspricht dem Anspruch auf Inklusion!

Von den 66 Schüler/innen mit SEN, die 2007/08 integrativ in privaten Schulen unterrichtet wurden [6] , davon 56 in Grundschulen, sind folgende Förderschwerpunkte vertreten:

Tab. 2: Förderschwerpunkte der integrierten Schüler/innen in privaten Schulen 2007/08

Förderschwerpunkt

N

In v. H.

Lernen

17

25,7

Sprache

12

18,2

Em-soz

12

18,2

Geistige Entwicklung

9 [7]

13,6

Schwerhörig

3

4,6

Sehbehindert

3

4,6

Körperliche Entwicklung

8

12,1

Kranke

1

1,5

Autismus

1

1,5

Summe

66

100,0

In der Regel findet das sonderpädagogische Feststellungsvefahren wie für das öffentliche Schulwesen durch die bezirklich festgelegten Verfahren, d.h. die zuständige staatliche Schulaufsicht statt. Eine Ausnahme scheint der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg zu sein, der beispielsweise für die Waldorfschule des Bezirks die Feststellung der Waldorfschule (die Sonderpädagogenstellen hat) selbst überlässt. Der AK Gem hat jedoch keinen systematischen Überblick, wie in jedem Bezirk verfahren wird.

3. Finanzierung . Die Finanzierung der sonderpädagogischen Förderung in privaten Sonderschulen entspricht der generellen Finanzierung [8] . Für integrierte Kinder mit SEN gibt es keine individuelle gesonderte Finanzierung. Vielmehr teilt SenBWF folgendes derzeitiges Verfahren mit: „Die Bezuschussung der Schulen in freier Trägerschaft ist in § 101 des Schulgesetzes sowie der dazu erlassenen Ersatzzuschussverordnung [9] geregelt. Bemessungsgrundlage für die Zuschüsse sind die vergleichbaren Personalkosten (Personalkosten entsprechender öffentlicher Schulen). Vergleichbare Personalkosten sind nach § 3 der ESZV die durchschnittlichen Personalkosten je Schulart für Lehrkräfte und sonstige schulische Mitarbeiter/innen. Die vergleichbaren Personalkosten werden unabhängig von der tatsächlichen Ausstattung und Organisation der privaten Schule nach dem in der ESZV festgelegten pauschalierten Berechnungsverfahren ermittelt. Danach wird der Lehrkräftebedarf der privaten Schule auf Grundlage der Relationen Schüler/in je Lehrkraft an der entsprechenden öffentlichen Schulart (Schüler-Lehrer-Relation) ermittelt. Der Bedarf für sonderpädagogische Förderung , Deutsch als Fremdsprache und andere über die Grundausstattung hinausgehende Zusatzausstattungen an den öffentlichen Schulen fließt also in die Schüler-Lehrer-Relation mit ein. Die so ermittelte Schüler-Lehrer-Relation je Schulart wird für alle Schulen in freier Trägerschaft zugrunde gelegt, unabhängig davon , ob in gleichem Umfang wie an den öffentlichen Schulen entsprechender Stundenbedarf für z.B. sonderpädagogische Fördermaßnahmen entsteht.“

Daraus resultiert: Die sonderpädagogische Zusatzausstattung in öff. Grundschulen und Sekundarstufen-I-Schulen, die aus dem Anteil von 3,4% bzw. 4.2% bzw. 0,1% Anteil von Schüler/innen mit SEN in GS, Sek I und Sek II resultiert (2008/09), wird auch für Schulen in freier Trägerschaft zugrunde gelegt, obwohl diese nur Anteile von 1,4%, 1,3% bzw. 0,0% SEN in GS, Sek I und Sek II haben. Die privaten Schulen integrieren also nicht nur deutlich seltener, sondern profitieren finanziell davon: Wenn sie weniger Schüler/innen mit SEN als im öff. Schulwesen aufnehmen, hat dies keinerlei finanzielle Auswirkungen. Steigende Integrationsquoten im öff. Schulwesen führen sogar zu besseren Ausstattungen im privaten Schulwesen , weil dadurch die Schüler-Lehrer-Relation als Bezugspunkt („vergleichbare Personalkosten“) günstiger wird. Oder noch deutlicher: Je weniger die privaten Schulen integrieren und diese Aufgabe dem öffentlichen Berliner Schulwesen überlassen, desto mehr profitieren sie finanziell. Das gilt nicht nur generell, sondern für jede einzelne private Schule.

Bei SenBWF scheint es keine Neigung zu geben, dieses intransparente und ungerechte, inklusionsfeindliche Finanzierungssystem zu ändern. Diese Haltung muss jedoch spätestens dann, wenn die sonderpädagogische Förderung in einem Haushaltsansatz und durch Poolbildung organisiert wird, geändert werden.

Offenkundig ist jedoch vielen freien Trägern und ihren Lehrkräften der vorliegende Skandal nicht bewusst , denn in der Personalmittelzuweisung wird nur die insgesamt errechnete Schüler-Lehrer-Relation mitgeteilt, nicht aber eine Aufteilung nach Pflichtunterrichtsstunden einerseits, zusätzlichem Aufwand (im öff. Schulwesen der Schulform) für Sprachförderung, Sonderpädagogische Förderung, Teilungsstunden, Ermäßigungstatbestände. Selbst der für 28 Schulen zuständigen Verantwortlichen der Ev. Schulstiftung ist zwar bekannt, dass diese Faktoren enthalten sind, nicht aber die Ausdifferenzierung.

Zugleich können einzelne private Schulen, wie beispielsweise die Ev. Gemeinschaftsschule Zentrum, die sich bewusst als inklusive Schulen verstehen und auch Kinder mit SEN (z.B. Kinder mit Down-Syndrom) aufnehmen, keine gesonderten (zusätzlichen) sonderpädagogischen Mittel von SenBWF erhalten. Sie müssten diese erforderlichen Mittel von ihrem Träger einfordern; wenn dieser die pauschalen Gesamtmittel anders einsetzt, ist dies bislang sein Recht. Der Staat fordert nicht ein, dass eine Zweckbestimmung erfolgt für sonderpädagogische Ressourcen – und er hat auch kein Interesse an einer Kontrolle. Er vergibt an die freien Träger Mittel, die er dringend für die dafür gedachten Zwecke im öffentlichen Schulwesen bräuchte!

4. Schlussfolgerung . Das gegenwärtige Verfahren ist ungerecht, inklusionshinderlich und intransparent.

  • Der erst vor wenigen Jahren mit den freien Trägern ausgehandelte pauschale Zuweisungsmodus ist intransparent . Niemand weiß, wie viele Mittel für sonderpädagogische Förderung in den pauschalen Zuweisungspersonalmitteln enthalten ist. Während die öff. Schulen im Einzelnen nachweisen müssen, dass sie ein Kind mit SEN aufnehmen, um die entsprechenden zusätzlichen Stunden zu erhalten, werden die Privatschulen pauschal versorgt – ohne nachweisen zu müssen, dass sie die Mittel dafür auch verwenden.
  • Das Verfahren bevorzugt zum Einen die Schulen in freier Trägerschaft generell, weil diese weniger Integration verwirklichen, jedoch die Ausstattung wie im öff. Schulwesen erhalten.
  • Bei steigender Integration in öff. Schulen steigen analog die finanziellen Zuschüsse der privaten Träger, ohne dass bei ihnen Integration zunehmen muss. Nicht-Integration wird belohnt !
  • Zugleich sind jene Schulen in freier Trägerschaft, die sich bewusst als inklusive Schulen mit der Integration von SEN profilieren, benachteiligt: Sie können ja nicht auf die allgemeinen Mittel jener privaten Schulen hilfsweise zugreifen, die sich der Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf verweigern.

Es muss daher eine neue Form der Finanzierung gefunden werden , die zielgenauer ist und eine angemessene Ausstattung für jene Schulen in freier Trägerschaft ermöglicht, die SEN aufnehmen, und zugleich die implizite Bevorzugung der Schulen in privater Trägerschaft überwindet.

Es wird vorgeschlagen:

  1. Bei der allg. Berechnung der Schüler-Lehrer-Relation im öff. Schulwesen pro Schulform werden die Sonderpädagogischen Ressourcen gesondert ausgewiesen [10] .
  2. Schulen in freier Trägerschaft erhalten sonderpädagogische Mittel nur , soweit sie Schüler/innen mit SEN aufnehmen. Das Verfahren zur Feststellung von SEN bleibt wie bislang in öff. Hand (bezirkliche Schulaufsicht) bzw. wird dorthin zurück verlagert.
  3. Für die Schulanfangsphase , in der für die Förderschwerpunkte Lernen, em-soz und Sprache grundsätzlich keine Feststellung erfolgt , wird auch für private Schulen eine pauschale Ressource entsprechend ihrer Schülerzahl gerechnet. Über den Umfang sollte ein sozialer Index angewandt werden. [11]
  4. Sollte Berlin generell für die Förderbereiche Lernen, em-soz und Sprache LES auf Feststellungsdiagnostik landesweit und für alle Pflichtschuljahre verzichten, wird ein analoges Verfahren angewandt wie unter 3. Die Feststellung für die übrigen Förderschwerpunkte bleibt erhalten.
  5. Erhalten freie Schulträger durch dieses Verfahren sonderpädagogische Ressourcen, unterliegen sie den gleichen Verfahren der Rechenschaftslegung , die auch im öff. Schulwesen eingeführt werden sollten (vgl. AK Gem paper vom Februar 2009.

Handlungsnotwendigkeit ist in jedem Fall geboten, zumal der Anspruch der inklusiven Entwicklung im Sinne der UN-Konvention sich nicht nur auf das öffentliche Schulwesen, sondern auf das gesamte Schulwesen richtet. Die gegenwärtige Berliner Regelung behindert die Verwirklichung.

[1] SEN = students with special educational needs; internationale Bezeichnung für Schüler/innen mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf

[2] Quelle AH Berlin, Drucksache 16/12811 Kl. Anfrage des Abg. Özcan Mutlu

[3] Darunter N = 312 in Schulen/Klassen für geistige Entwicklung, 164 in der Grundstufe weiterer Sonderschulen, 75 in der Sek. I weiterer Sonderschulen, 0 in Sek II.

[4] Darunter N = 355 in Schulen/ Klassen für geistige Entwicklung (SG-Klassen), 202 in der Grundstufe weiterer Sonderschulen, 92 in der Sek I weiterer Sonderschulen, 0 in Sek II. Daten für 2008/09: 369 in Schulen/ Klassen für geistige Entwicklung, 205 in der Grundstufe weiterer Sonderschulen, 93 in der Sek I weiterer Sonderschulen, keine in Sek II.

[5] GS = Grundschule; HS = Hauptschule; RS = Realschule; Gy = Gymnasium; IGS = Integrierte Gesamtschule

[6] Von Vertretern der freien Träger wird argumentiert, dass es viele Kinder gebe, die zwar Förderbedarf hätten, aber nicht offiziell diagnostiziert und gemeldet würden und damit auch nicht in der amtlichen Statistik auftauchten, weil das ja ohnehin keine (Ressourcen-)Folgen habe. Das Argument kann sich nur gegen die jeweiligen Schulträger, nicht jedoch gegen den Staat richten, da – siehe unter 3 – diese ja entsprechende Mittel erhalten.

[7] Darunter 7 Mädchen.

[8] Schulhelferstunden . Nach SenBWF sind in 12/2008 außerdem für die vier privaten Sonderpädagogischen Förderzentren Stephanus-Schule/Pankow, August-Hermann-Francke-Schule/Spandau, Parzival-Schule/Steglitz-Zehlendorf und Sancta-Maria-Schule/Steglitz-Zehlendorf zusammen 57 Schulhelferstunden bewilligt worden.

[9] Verordnung über Zuschüsse für Ersatzschulen (Ersatzzuschussverordnung ESZV) vom 19. 11. 2004, geändert durch Verordnung vom 23. 10. 2007.

[10] Ein analoges Verfahren könnte auch für Sprachförderung u.a. Zusatzausstattungen vorgenommen werden, ist hier jedoch nicht das Thema.

[11] Der Ak Gem schlägt für LES rd. 4,5% landesweit vor; als Sozialfaktoren könnte die Zahl der von der Lehrmittelzuzahlung befreiten Schüler gewählt werden. Dann könnte der Faktor zwischen 2% und 7% schwanken.