Stellungnahme des AK GEM zur Berliner Ganztagsschulentwicklung, besonders unter integrationspädagogischen Aspekten

09.05. 04

Stellungnahme des AK GEM zur Berliner Ganztagsschulentwicklung, besonders unter integrationspädagogischen Aspekten

I. Ziele von Ganztagsschulen präzisieren!

Wir begrüßen, dass die Berliner Bildungspolitik die Notwendigkeit eines qualitativen und quantitativen Ausbaus von Ganztagsgrundschulen erkannt hat. Darüber hinaus müssen aus der Sicht des AK GEM aber noch über die Festlegungen im neuen Schulgesetz hinausgehende gemeinsame Ziele formuliert werden, auf die sich die konkreten Umsetzungsschritte überprüfbar beziehen. 1. Ganztagsschulen sollen allen Kindern eine bessere Förderung garantieren und 2. eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewährleisten. Sie haben außerdem darüber hinaus gehende Ziele: 3. Sie sollen in einem „Haus des Lernens“ genügend Zeit und Raum schaffen, um den Lehrern einen möglichst optimalen Rahmen für Unterricht und Erziehung und allen Kindern ein ganzheitliches Erfahrungsfeld zu ermöglichen. 4. Ganztagsschulen sollen Chancenungleichheit abbauen helfen. Sie sollen deshalb so konzipiert und eingerichtet werden, dass Kinder aus sozial-ökonomisch benachteiligten Familien – gerade auch in sozialen Brennpunktgebieten – eine ihre Gesamtentwicklung unterstützende Förderung in Unterricht und Schulleben erfahren und 5. Kinder mit Behinderungen und mit Lern- und Verhaltensproblemen die zur Bewältigung ihrer besonderen Lebenslagen notwendige Förderung und Betreuung erhalten. Diese Anforderungen sind grundsätzlich nur in gebundenen Ganztagsgrundschulen zu realisieren. Halbtagsgrundschulen mit nachmittäglichem Freizeitangebot für einen Teil der Schüler sind aus unserer Sicht noch keine Ganztagsgrundschulen. Ihre kompensatorische Wirkung ist gering, wie jüngste Belege aus Bremen zeigen. Aber auch wir gehen davon aus, dass ein so ehrgeiziges Reformprogramm wie die flächendeckende Einführung gebundener Ganztagsgrundschulen nur schrittweise zu verwirklichen ist und akzeptieren den offenen Ganztagsbetrieb der Mehrzahl der Berliner Grundschulen als einen Zwischenschritt.

II. Gefahren bei der und Forderungen für die Umsetzung

Der AK GEM weist auf mögliche Fehlentwicklungen hin und empfiehlt dringend, dass einige bereits angekündigte oder vollzogene Maßnahmen auf nachteilige Auswirkungen und Nebenwirkungen hin überprüft werden. Der AK bezieht seine Bedenken und Forderungen konzentriert auf fünf Bereiche.

II.1 Raumprobleme

Die derzeitig gültigen Raumvorgaben bedürfen einer dringenden Überarbeitung. Um die geplanten Ganztagsschulen zu akzeptierten und pädagogisch wirkungsvollen Schulen werden zu lassen, müssen qualitativ und quantitativ ausreichende Räume für den Freizeitbereich vorgesehen sein. Ein fester Freizeitraum im Sinne eines kindgerechten, dem Kind vertrauten Aufenthaltsraums ist für alle Kinder abzusichern. Darüber hinaus müssen genügend Räume für die Förderung sowohl einzelner Kinder und Kindergruppen als auch Räume für Rückzug, Ruhe und für Bewegung sowie Begegnung und für sinnvolle Freizeitaktivitäten vorhanden sein. Selbstverständlich muss es in einem zeitgemäßen Raumprogramm verbindliche Angaben zu einer behindertengerechten Grundausstattung (z. B. rollstuhlgerechte Zugänge, behindertengerechte WCs, Ruheraum usw. ) geben. Dies gilt entsprechend für Kinder, die im Rahmen der verlässlichen Halbtagsgrundschule mit anschließendem additiven Offenen Ganztagsbetrieb in schulischen Räumen betreut werden. Zur Begründung verweist der AK GEM darauf, dass das bisherige Musterraumprogramm weitgehend verengt ist auf eine Doppelnutzung von Unterrichtsräumen in den neu zu schaffenden Ganztagsgrundschulen. Es verkennt den tatsächlichen Raumbedarf ganztägig organisierten Unterrichts und Schullebens. Die räumliche Versorgung der bisherigen Hortkinder würde somit an der Grundschule erheblich schlechter sein als derzeit noch in den vergleichbaren Einrichtungen der Jugendhilfe. II.2 Personalprobleme Bei der Personalzumessung müssen unter Berücksichtigung der Anzahl der Kinder mit sonderpädagogischem und erheblichem sozialpädagogischen Förderbedarf sowie der Kinder nichtdeutscher Herkunft die derzeit noch geltenden Standards der Horte im Bereich der Jugendhilfe Anwendung finden (siehe KitaPers VO §§ 5-7 von 1998). Dies gilt es entsprechend bei der Gruppengröße pro ErzieherIn zu berücksichtigen. In allen Schulen müssen die Qualifikationen des Erzieherpersonals den Anforderungen einer Ganztagsgrundschule entsprechen. Dies gilt natürlich in besonderem Maße für Schulen in sozialen Brennpunkten und für die Aufgaben der gemeinsamen Unterrichtung und Erziehung von behinderten und nicht behinderten Kindern und betrifft die Stellen der ErzieherInnen, der StützpädagogInnen und insbesondere die Leitung des Freizeitbereichs. Es schließt den stellenplanmäßigen Erhalt in den bisherigen Vergütungsgruppen ein. Zur Begründung sei darauf verwiesen, dass aus der Drucksache 15/758 und 15/1114 (Sen BJS I A/III D) sich entnehmen lässt, dass es künftig außer den ErzieherInnen keine LeiterInnenstellen und qualifizierte StützerzieherInnen – mit entsprechenden Besoldungsgruppen wie derzeit in der Jugendhilfe – geben soll. Die Hortbereiche an den Ganztagsgrundschulen sollen also künftig ohne die entsprechend qualifizierten MitarbeiterInnen organisiert werden. Dies wird einen Verlust an Qualität nach sich ziehen und führt zu einer unzumutbaren Überbelastung der Schulleiterinnen von Ganztagsgrundschulen. SchulleiterInnen sind in Berlin nur mit etwa einer halben Stelle für Schulleitungstätigkeiten in Grundschulen freigestellt, und nur wenige SchulleiterInnen verfügen über die notwendigen sozialpädagogischen Kompetenzen, um eine qualitativ anspruchsvolle Ganztagsschule – ob nun gebunden oder offen – aufzubauen und zukünftig ohne die Unterstützung von kompetenten FreizeitleiterInnen zu leiten. Die Vorgaben im Personalbereich und bezüglich der Gruppengrößen in Ganztagsgrundschulen verhindern in der Praxis die angestrebte qualitative Weiterentwicklung der Berliner Grundschule. Besonders für Kinder mit stärkeren Lern- und Verhaltensbeeinträchtigungen und mit gravierenden Behinderungen gibt es keinerlei Frequenzabsenkungen. Die „defacto-Vergrößerungen“ der Gruppen im Freizeitbereich durch das neue Jahresarbeitszeitmodell verschärfen die bereits aus dem Jugendbereich bekannten Missstände. Die Verknüpfung von Unterricht und Freizeitbereich, wie sie für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf und generell für Schulen in sozialen Brennpunkten besonders wichtig ist, wäre aufgrund des vorgegebenen Personalschlüssels und den noch immer ungelösten Fragen der Arbeitszeitregelung bei Lehrern und Lehrerinnen nicht zu realisieren. Für Kinder mit Behinderungen fehlen bisher verbindliche Rahmenbedingungen für den Freizeitbereich an Ganztagsgrundschulen, die dem gesetzlich festgelegtem Vorrang integrativer Beschulung entsprechen.

II.3 Gefahr der sozialen Segregation

Längerfristig darf es keine Parallelsysteme – einerseits kostenlose gebundene Ganztagsgrundschule, andererseits kostenlose Halbtagsschule, ergänzt durch kostenpflichtigen Offenen Ganztagsbetrieb – geben. Es gilt, in einem überschaubaren Zeitrahmen grundsätzlich alle Berliner Grundschulen zu gebundenen Ganztagsschulen zu entwickeln, wobei das zeitliche Ausmaß der Gebundenheit Teil der vorgesehenen Systemevaluation sein sollte. Ganztagsgrundschulen müssen räumlich, sächlich und personell so konzipiert und ausgestattet sein, dass sie für alle Kinder aus allen Bevölkerungsschichten attraktiv sind und allen Kindern eine optimale individuelle Förderung bieten können. Schulen in besonders belasteten Gebieten müssen im Sinne von Stadtteilzentren so unterstützt werden, dass sie mit attraktiven und sozialpädagogischen zusätzlichen Angeboten in ihrem schwierigen Umfeld wirken können. Der AK GEM hält die unterschiedliche Finanzierung der Ganztagsplätze in gebundenen Ganztagsgrundschulen und im offenen Ganztagsbetrieb für problematisch. Es besteht die Gefahr, dass die gebundenen Ganztagsgrundschulen in sozialen Brennpunkten zu Schulen für arme, bildungsferne Bevölkerungsschichten werden; die bereits jetzt zu beobachtende Abwanderung der ökonomisch abgesichert lebenden Familien aus diesen Stadtteilen wäre so nicht zu stoppen. Auch im Offenen Ganztagsbetrieb müssen deshalb zumindest für einzelne Kinder schon jetzt Plätze kostenlos zur Verfügung stehen, wenn aus sozial-pädagogischer Sicht die ganztägige Betreuung und Förderung als ergänzende Familienhilfe notwendig erscheint. Die Erfahrung zeigt, dass gerade viele Migrantenfamilien aus nachvollziehbaren Gründen kostenpflichtige Angebote meiden. Im kostenpflichtigen Offenen Ganztagsbetrieb müssen Eltern im oberen Einkommensbereich inzwischen relativ hohe Kostenbeiträge bezahlen. Aufgrund der mehr als bescheidenen räumlichen und personellen Rahmenbedingungen der neu zu schaffenden Ganztagsgrundschulen könnten Eltern in ökonomisch abgesicherten Verhältnissen dazu neigen, private Betreuungsverhältnisse für die wenigen verbleibenden Stunden am Nachmittag zu organisieren, um so für ihre Kinder die Unterbringung in aus ihrer Sicht unattraktiven Ganztagsschulen zu vermeiden. Die integrative Kraft, die von Kindern dieser Bevölkerungsschicht ausgeht, würde dann den benachteiligten Kindern wie dem Schulleben insgesamt verloren gehen. Grundschulen in sozialen Brennpunkten könnten dadurch zunehmend an gesellschaftlicher Integrationskraft verlieren. Zur schrittweisen Schaffung eines flächendeckenden Angebots an ganztägiger Bildung, Erziehung und Betreuung müssen Schulen in sozialen Brennpunkten schon jetzt stellenplanmäßig abgesicherte präventive Angebote im Nachmittagsbereich bieten können. Dies sollte im Sinne von integrierender Schulsozialarbeit zu einem Teil auch durch LehrerInnen geleistet werden können. Darüber hinaus müssen hier möglichst schnell Rahmenbedingungen für die Einzelschule geschaffen werden, sich bedarfsgerecht zusätzliche Angebote zur Erweiterung der Nachmittagsaktivitäten „einkaufen“ zu können.

II.4 Probleme der gemeinsamen Schulentwicklung für Unterricht und Freizeit

Die Bildungsverwaltung sollte im Prozess des gesamten Projektmanagements – unter Einbeziehung aller Beteiligten – klare pädagogische Zielvorstellungen für Ganztagsgrundschulen als „Häuser des Lernens und gemeinsamen Lebens“ und entsprechende Rahmenvorgaben entwickeln und umsetzen. Die öffentliche Diskussion über die konkreten Umsetzungsschritte und Probleme der Grundschulen auf dem Weg zur Ganztagsschule sollte mit Eltern, Lehrern und Schülern gemeinsam geführt werden, damit sie alle zu aktiven Unterstützern des Lernens und Lebens in der Schule für alle werden. Der AK GEM weist darauf hin, dass Halbtagsgrundschulen mit nachmittäglichem Freizeitangebot für einen Teil der Schülerschaft noch keine Ganztagsgrundschulen sind. Ein besonderes Augenmerk muss Politik und Verwaltung gerade in der Aufbauphase einer Ganztagsgrundschule auf die Fragen der gemeinsamen inhaltlichen (Ganztags-) Schulentwicklung von LehrerInnen und MitarbeiterInnen im Freizeitbereich haben. Eine ganzheitlich ausgerichtete Arbeit in einer Ganztagsgrundschule kann nur mit Hilfe tatsächlicher Kooperation von sozialpädagogisch kompetenten Fachkräften und den unterrichtenden LehrerInnen stattfinden. Dies betrifft die Phase der Konzeptentwicklung ebenso wie die stete Qualitätssicherung und Weiterentwicklung. LehrerInnen, ErzieherInnen und auch die zukünftig betroffenen Eltern und SchülerInnen werden derzeit viel zu wenig in den Umgestaltungsprozess einbezogen. Standortbezogene pädagogische Schwerpunkte der Einzelschulen – z. B. besonders intensive Vorerfahrungen zum gemeinsamen Unterricht, zur verlässlichen Halbtagsgrundschule, mit langjährigen Teamerfahrungen usw. – werden zu wenig berücksichtigt und beim beabsichtigten Personaltransfer zu wenig beachtet. Die große Chance gemeinsamer Schulentwicklung kann aber nicht genutzt werden, wenn die Schulen keine Klarheit über das zukünftige Personal haben.

II.5 Prozessbegleitung und externe Unterstützung

Die Umwandlung der Berliner Grundschulen in Ganztagsschulen ist für die Schulen wie für die Administration ein pädagogisch und bildungspolitisch bedeutender großer Schritt. Er braucht einerseits die Stärkung der Einzelschule, andererseits die externe Unterstützung – auch für Schulaufsicht und Schulverwaltung. Der AK GEM empfiehlt die Einbeziehung eines professionellen Projektmanagements und einer prozessbegleitenden wissenschaftlichen Begleitung, die ihre Arbeit an den eingangs aufgeführten Zielen orientiert.