Kritische Stellungnahme des AK Gem zur neuen Sonderpädagogikverordnung vom 23. Juni 2009

Beschlossen in der Sitzung vom 29. 9. 2009

  1. Der Zeitpunkt des neuen Erlasses der Sonderpädagogikverordnung (SopädVO) vor Beschluss über die Schulstrukturreform der Sekundarstufe im Herbst 2009 ist unverständlich. Denn eine Reihe von Formulierungen macht nur im Rahmen des alten, also bald veränderten Schulgesetzes Sinn (z.B. in § 22 ff Verweise auf die Schulformen). Außerdem hat der Senat erklärt – zuletzt im September 2009 gegenüber dem Abgeordnetenhaus –, dass es einen umfassenden Bericht zur Entwicklung der Sonderpädagogik in Berlin, vor allem unter dem Aspekt der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte Behinderter, bis April 2010 geben wird. Die neue SopädVO muss auf Grundlage der Novellierung des Schulgesetzes und der Un-Konvention erneut und umfassend geändert werden. Es drängt sich der Verdacht auf, dass mit dem Erlass zum jetzigen Zeitpunkt Fakten geschaffen werden sollen, die auf Jahre Bestand haben sollen – zum Nachteil integrativer Entwicklungen.
  2. Die Verordnung ist leider von inklusivem Denken weit entfernt. Vielmehr wird die Rolle und zentrale Zuständigkeit der Sonderschulen (Förderzentren mit Schülern) weiter festgeschrieben und darüber hinaus werden neue Sonderlerngruppen geschaffen bzw. aufrechterhalten: „temporäre Lerngruppen“ mit mehrjähriger Dauer, „sonderpädagogische Kleinklassen“, „integrative Klassen“ mit einer übergroßen Zahl von Förderkindern. Zumindest sprachlich ist nicht ausgeschlossen (§ 4.2), dass auch Sonderschulen „integrative Klassen“, „sonderpädagogische Kleinklassen“ und „temporäre Lerngruppen“ führen. Der AK Gem sieht darin den Versuch, sich in immer neuen Varianten um eine wirklich inklusive pädagogische Arbeit zu drücken und das alte, aber längst widerlegte Denken – behinderungshomogene Lerngruppen seien besonders fördereffektiv – aufrechtzuerhalten und auch in die Regelschule aufzunehmen.
  3. Völlig unverständlich ist, warum die Grundschulen gezwungen werden sollen (§ 4.4), dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der 6. Klasse nicht von ihren „eigenen“ Sonderpädagogen und Klassenlehrern für die weitere Schullaufbahn beraten werden sollen, sondern von dem „zuständigen Förderzentrum“. Die Gefahr, dass ein Förderzentrum (mit eigenen Klassen in der Sekundarstufe) in eigenem Interesse an der Erhaltung und Füllung ihrer Klasse berät, wird durch die Verpflichtung der Beratung institutionell eröffnet; elterliches Misstrauen wird provoziert. Es hätte genügt, festzulegen, dass eine Beratung in Verantwortung der Klassenlehrer erfolgt, die sich entsprechende Fachkompetenz in eigener Verantwortung heranziehen können. Suggeriert wird Lehrern und Eltern im Übrigen, dass die Grundschule nicht für alle ihre Kinder„zuständig“ sei, sondern eine Sonderschule für Kinder mit Förderbedarf in der Grundschule.
  4. „Temporäre Lerngruppen“ waren ursprünglich als kurzfristige besondere Fördermaßnahme konzipiert (vgl. Handreichung der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport vom Juli 2006). Nun sind sie (§ 33.3) offenbar mindestens von Jahresdauer, denn ein Wechsel in die Regelklassen ist nur „am Ende des Schuljahres“ vorgesehen. „Temporären“ Lerngruppen können bis zu drei Jahren ausgedehnt werden, sind also nichts anderes als die alten Diagnose-Förder-Klassen. Sondergruppen dieser Dauer sind nicht inklusiv (und auch ihr Lerneffekt ist strittig).
  5. Unverständlich ist auch die Systematik etwa bei der Festlegung der Förderziele der einzelnen Förderschwerpunkte. Wenn z.B. bei „Lernen“ auf die „Integration ins Arbeitsleben“ Wert gelegt wird (ein Lernziel, was für alle Schülerinnen und Schüler zu gelten hat), dies jedoch bei „emotionale und soziale Entwicklung“ oder bei „Sprache nicht erwähnt wird, dann stecken dahinter entweder überholte Klischees über Förderkinder bestimmter Schwerpunkte oder es liegt eine beliebige Auswahl von Ziel-Topoi vor, die auch völlig anders hätte gestaltet werden können. Hinzu kommt: Da die Förderung immer stärker auf je individuelle Entwicklungsziele (individueller Förderplan) bezogen ist, auch innerhalb der Förderschwerpunkte, machen Versuche, zwischen den Förderschwerpunkten in den Lernzielen zu differenzieren und sie von allgemeinen Lernzielen aller Schülerinnen und Schüler abzugrenzen, nur in ganz speziellen Fragen Sinn (Gebärdensprache; Brailleschrift u.ä.).
  6. Der § 17 erlaubt zusätzlichen Unterricht in Einzelfällen; unklar ist hier, ob es sich um Einzelunterricht handelt und woher die Ressource stammt. Der AK Gem begrüßt die Möglichkeit zeitlich zusätzlicher Förderung, lehnt jedoch den Begriff „Unterricht“ ab, weil dies ggf. weitere Kleingruppenbildung eröffnet und nur Personen diese Förderung machen können, die selbständig „Unterricht“ erteilen dürfen. Außerdem müsste geklärt werden, woher die zusätzlich nötigen Personalmittel stammen. Ein Hinweis: Ein schuleigenes Konzept „Schüler helfen Schülern“ (als Tutoren) ist mit der Formulierung in § 17 unvereinbar.
  7. Der AK Gem kritisiert, dass der Senat die Zahl von Integrationsklassen pro Schule immer noch begrenzt (bzw. vom Wohlwollen der Schulaufsicht abhängig macht, § 20.4), auch wenn eine einzelne Schule darüber hinaus gehen will. Aus unserer Sicht ist überhaupt keine Regelung nötig, da dies die einzelnen Schulen selbst regeln können.
  8. In § 20.2 wird festgelegt, dass Kinder mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung nur in Schulen aufgenommen werden dürfen, die in jedem Schuljahr solche Kinder aufnehmen. Auch müssen pro Klasse zwei bis drei Kinder mit diesem Schwerpunkt aufgenommen werden. Beide Festlegungen („erfolgt in Schulen, die“,…„werden zwei oder drei Schülerinnen und Schüler…“) sind dogmatisch und schließen aus, dass ein einzelnes Kind mit diesem Förderschwerpunkt in eine Integrationsklasse aufgenommen wird (auch mit Kinder anderer Förderschwerpunkte und Überschneidungen), aber auch, dass sich Schulen neu und schrittweise auf solche Kinder einlässt. Es genügte festzulegen, dass maximal drei Kinder mit Förderschwerpunkt geistige Behinderung in eine Klasse aufgenommen werden.
  9. Integration in der Berufsschule ist weiterhin nur zielgleich möglich (§ 21.2). Der AK Gem kritisiert diese Einschränkung; unter Aspekten von Inklusion ist diese Einschränkung aufzuheben.
  10. In § 32 werden die zu erstellenden sonderpädagogischen Gutachten an „behinderungsspezifische Vorgeschichten“ gebunden. Das ist deutlich enger und einseitiger gefasst als der in der Diagnostik inzwischen übliche Begriff der „Kind-Umfeld-Diagnostik“. Der AK Gem empfiehlt dringend, diese breite, auch das soziale Umfeld einbeziehende Formulierung aufzunehmen.
  11. In der bisher geltenden Fassung der SopädVO (alt § 31) konnten Anträge auf Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs für die Förderschwerpunkte „Lernen“ und „emotionale und soziale Entwicklung“ ausdrücklich erst nach einer Beobachtungs- und Förderphase im zweiten Schuljahr der Schulanfangsphase gestellt werden. Der AK Gem kritisiert, dass diese pädagogisch sinnvolle Festlegung in der neuen Fassung (§ 31) teilweise zurück genommen wird. Die Formulierungen „in der Regel“ und „es sei denn, dass vorher eindeutige Merkmale festgestellt werden, die nahelegen, dass ein entsprechender sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt“ öffnen einer frühzeitiger Etikettierung von Kindern mit Lernentwicklungsverzögerungen Tür und Tor und stehen im Widerspruch zu den integrationspädagogischen Aufgaben der Schulanfangsphase.
  12. In der neuen SopädVO ist unverständlicherweise die Regelung über die Aufnahme oder Nichtaufnahme in den gemeinsamen Unterricht oder in eine Sonderschule (§ 34) wörtlich aus dem Schulgesetz kopiert. In § 34 entscheidet bei Konfliktfällen die Schulaufsicht, d.h. der Staat über den Lernort. Mit anderen Worten: Das kann auch eine Entscheidung gegen gemeinsamen Unterricht und gegen das Recht des Kindes auf Inklusion sein. Das widerspricht der UN-Konvention, die schließlich schon im Dezember 2008 in Bundestag und Bundesrat beschlossen wurde und seit März 2009 geltendes Recht ist. Der AK Gem fordert schon lange, dass diese Passage des Schulgesetzes entsprechend der UN-Konvention verändert wird zugunsten der Rechte von Kindern auf inklusive Erziehung. Warum der Senat von Berlin im Sommer 2009 in seiner SopädVO, trotz sonstiger inklusiver Absichtserklärungen zur Umsetzung der Un-Konvention, einen überholten Gesetzestext wiederholt, kann nur als Versuch gewertet werden, Inklusionshindernisse schulaufsichtlich aufrecht zu erhalten.

Der AK Gem fordert den Senat auf, umgehend nach Verabschiedung des Schulgesetzes die vorliegende Sonderpädagogische Verordnung zurückzuziehen und entsprechend zu überarbeiten.