Stellungnahme zum TOP 4 des Ausschusses für Bildung, Jugend und Familie des AH von Berlin am 18. 6. 2009 zur „Entwicklung der Inklusion in der Berliner Schule nach der Unterzeichnung des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“

Stellungnahme zum TOP 4 des Ausschusses für Bildung, Jugend und Familie des AH von Berlin am 18. 6. 2009 zur „Entwicklung der Inklusion in der Berliner Schule nach der Unterzeichnung des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“

  1. Die UN-Konvention stellt einen Paradigmenwechsel im gesellschaftlichen Umgang mit Behinderten dar, nämlich von der „charity“ (Fürsorge) zu „civil rights“ (Menschenrechten) auf allen Ebenen des Alltags (Wohnen, Arbeit, Bildung, Gesundheit, Verkehr, Stadt- und Raumplanung usw.). Dadurch, dass Bundestag und alle Bundesländer der UN-Konvention zugestimmt haben, wird der Art. 3.3 GG mit Leben gefüllt. Das stellt einen enormen Fortschritt für das gemeinschaftliche Leben dar.
  1. Das gilt auch für den pädagogischen Bereich . Nach der Phase des „Gewährens“ gemeinsamer Erziehung (GU) in Kindergarten, Schule und Ausbildung (nämlich im Rahmen festgelegter Mittel) formuliert die UN-Konvention das Recht auf „inclusive education at all levels“ des Bildungssystems. Für den Schulunterricht bedeutet dies, dass der Staat / die Schulaufsicht kein Kind mit Behinderung (bzw. mit sonderpädagogischem Förderbedarf, special educational needs) aus der Regelschule abweisen darf, auch nicht, wenn organisatorische, finanzielle oder bauliche Bedenken bestehen. Solche Hindernisse müssen dann beseitigt werden. Der § 37.3 BerlSchG, der Möglichkeiten der Entscheidung gegen integrative Elternwünsche vorsieht, ist daher umgehend zu ändern.
  1. Die Entwicklung einer inklusiven Schule durch die Un-Konvention trifft zugleich auf Entwicklungen der allgemeinen Schulpädagogik, individualisierte Lernwege und kooperatives Lernen in den Mittelpunkt von Schule zu rücken – für alle, auch in den Sekundarstufen aller Schulformen. Behindertenintegration ist also nur ein weiteres, für Individualisierung und Gemeinschaftlichkeit förderliches Element einer künftig lerneffektiveren, zugleich sozial integrativen Schule. Wir sind historisch an einem erfreulichen Wendepunkt der allgemeinen Schule und zugleich bei einer engeren Verbindung von Sonder- und allgemeiner Pädagogik.
  1. Die Umsetzung der UN-Konvention für Berlin verlangt aus meiner Sicht folgendes:
      1. Nötig ist zeitnahes Gesamtkonzept , einschließlich der Festlegung von quantitativen benchmarks (Beispiel Schleswig-Holstein), wann flächendeckend der GU bei den einzelnen Förderschwerpunkten erreicht werden soll und wie die Umsetzung erfolgen soll. Der Beginn der Umsetzung sollte mit dem Schj. 09/10 erfolgen. Auch auf Bezirksebene sollte unter Einbeziehung der Schulträger und der demografischen Entwicklungsperspektive jeweils ein benachmark-bezogener Umsetzungsplan vorgelegt werden.
      2. Die Sonderschulen für die Bereiche Lernen und Sprache (und Beo-Klassen für den Bereich soziale und emotionale Entwicklung ) (LES) ganz (und nicht nur in den Klassen 1-2) sollten jahrgangsweise auslaufen ssen, da in diese Schulen besonders Kinder aus sozial belasteten Familien abgeschoben werden; die vorhandenen Ressourcen sollten in die allgemeinen Schulen verlagert werden. Auszugehen ist landesweit in Berlin von 4,5% für den Bereich LES. Die Vorhaltung innerhalb der allgemeinen Schulen ermöglicht, dass diese Größe nur eine Planungsgröße ist und schulintern deutlich mehr Kinder, auch zeitweilig, gefördert werden können, wie dies in Finnland erfolgt. Wenn so verfahren wird, kann auf vorab-Feststellungsdiagnostik zugunsten kontinuierlicher Förderdiagnostik, Förderplänen und Rechenschaftslegung in der Schule verzichtet werden.
      3. Inklusion/GU ist schon jetzt Aufgabe der allgemeinen Schule, sie sollte jedoch auch im Schulprogramm jeder Schule aufgenommen werden – als Teil der Maßnahmen zur individuellen Förderung generell. Soweit feste Stellen in der Schule sind, sollte ein/e Sonderpädagoe/-pädagogin Teil der Steuerungsgruppe bzw. der Schulleitung werden.
      4. Inklusion bedeutet mehr als gemeinsamer Unterricht. Daher ist eine schulinterne Vernetzung in der Ganztagsschule – auch räumlich und möglichst auch organisatorisch – mit den Sozialarbeitern bzw. Erziehern und Schulhelfern, außerschulisch mit der Jugendhilfe und mit anderen Unterstützungseinrichtungen herzustellen. Am günstigsten ist es, wenn schulintern alle Förder- und Unterstützungspersonen in einem Unterstützungscenter verbunden sind.
      5. Für die Kinder mit seh-, hör-, geistigen und körperlichen/motorischen Beeinträchtigungen (Anteil in Berlin bei 1,5-2%) sollten künftig pro Bezirk ein gemeinsames Beratungs- und Diagnostikzentrum eingerichtet werden. Hier könnten außerdem nicht nur Sonderpädagogen dieser Behinderungsarten, sondern auch die Stellen der Therapeuten und die Ansprechpartner der Kinder- und Jugendgesundheit gebündelt werden. Ganzheitliche Förderung verlangt integrative Konzepte. Der Begriff „Kompetenzzentrum“ sollte nur verwendet werden, wenn es nicht um eine neuerliche Umbenennung der Sonderschulen (von Sonderschulen zu Förderschulen zu Förderzentren zu Kompetenzzentren) geht, die den Inhalt gleich lässt (nämlich gesonderten Unterricht von behinderungsbezogenen Lerngruppen). Von Beratungs- und Kompetenzzentren sollte nur gesprochen werden, wenn es tatsächlich nicht um Sodnerschulbetrieb geht.
      6. Das Berufsbild sowohl der Regelschullehrkräfte wie der Sonderpädagogen und der Sozialarbeiter (in der GTS) ändert sich durch Inklusion: Es wird mehr Teamarbeit, mehr Individualisierung, mehr verbindliche Abstimmungen am Arbeitsplatz allgemeine Schule und mehr Rechenschaftslegung verlangt. Darauf sind die Fortbildung und die Ausbildung auszurichten. Dringend erforderlich sind in der allgemeinen Schule mehr Kompetenzen im Bereich Lernförderung, emotionale und soziale Entwicklung / Verhaltensauffälligkeiten und Sprachförderung. Deshalb ist die Einführung eines Zweitfaches Sonderpädagogik mit diesen Schwerpunkten bei L1-L4 dringend (in L 5 Berufl. Bildung besteht es schon).
      7. Die Finanzierung der Sonderpädagogik im Land Berlin muss integrationsförderlicher werden: Es muss ein Haushaltstitel für die Sonderpädagogik-Stellen (plus der weiteren, etwa für Therapeuten, die zu erhalten sind, und für Schulhelfer usw.) geschaffen werden. Die Beförderungskosten für beeinträchtigte Schüler/innen muss vom Schulortprinzip zum Wohnortprinzip umgestellt werden, um die Beschulung wohnortnaher Unterrichtung zu fördern. Die Einsparungen der 8bezirklichen) Schulträger durch die räumliche Verlagerung der sonderpädagogischen und therapeutischen Förderung in die allgemeinen Schulen sollten pro Bezirk vom heutigen Ist-Stand der Betriebskosten (und Beförderungskosten) aus gerechnet und in andere bezirkliche Bereiche von Bildung und Kultur (Beispiel: Musikschule in Pankow) eingesetzt werden.
      8. Inklusion bedeutet auch mehr Transparenz der Förderart und -ergebnisse. Deshalb ist die schulinterne Rechenschaftslegung ebenso einzuführen wie eine kontinuierliche Berichterstattung zur Entwicklung des GU auf Bezirks- und Landesebene (zweijährig). Das schließt auch die Dokumentation pro Schule und Jahr der Schulabschlüsse der Schüler/innen nach Förderschwerpunkt ein. Diese Daten können für das festgelegte Monitoring der Umsetzung der UN-Konvention, die das Institut für Menschenrechte im Auftrag der Budnesregierung durchführt, verwendet werden.

.

  1. Inklusion schließt ein, dass nicht nur der Behindertenbeauftragte des Landes, sondern auch die Berliner NGOs zur Umsetzung der UN-Konvention in die konkreten Umsetzungspläneeinbezogen werden, die sich seit Jahren für Integration einsetzen. Inklusion und GU ist nicht mehr und nicht nur eine Angelegenheit von Schulpolitik und Schulverwaltung, auch nicht nur von Sonderpädagogen, sondern auch von Regional- und Gesellschaftspolitik, um die Selbst- und Mitbestimmung von Menschen mit Behinderungen zu stärken.